Eingeständnis: Ich kann diese Vorurteile gegenüber den "Notisten" nicht mehr lesen, geschweige denn hören. Meistens werden sie so formuliert, als wenn die Chance, durch´s Notenlesen ein gefühlloser Spieler zu werden, recht groß sei und als wenn das Notenlesevermögen gar nicht nötig wäre.
Beim ersten Punkt muss ich entgegnen, dass das eine, also das Lesen, mit dem anderen, dem Feeling, wenig zu tun hat, bzw. dass keine Abhängigkeit oder Relation zwischen beidem besteht. Ich kenne genügend Beispiele für alle möglichen Kombinationen dieser beiden Komponenten und am schlimmsten waren die, wo das Nicht-Lesen-Können mit Gefühllosigkeit zusammentraf.
Beim zweiten Punkt bliebe zu antworten, dass es für einen professionellen Musiker unabdingbar ist, Noten lesen zu können. Ausnahme: er macht Karriere im Pop/Rock-Bereich. (Auch für einen Jazzer wäre es eine nicht denkbare Einschränkung)
Als Intro: Notenlesen an sich ist leicht. Nun gibt es aber unzählige Möglichkeiten, die Notenelemente zusammenzustellen, so dass es eher eine Frage des permanenten Machens ist, also des Sammelns von Erfahrungen und Routine, als eine Frage des Erlernens. Es verhält sich fast genauso wie bei einer Sprache.
Komischerweise gibt es Menschen, die sich darauf berufen, Noten nicht lesen zu können und dieses so postulieren, als wäre es für sie zu spät oder als sei das eine Sache, die sie persönlich schlichtweg nicht bräuchten. Nun, zu spät ist es dafür nie, es bedarf bloß der Einsicht, dass es ein wichtiges Defizit darstellt, und der Bereitschaft, auf dem Gebiet von vorne anzufangen, also eine Sprache in ihrer Schrift von den Grundlagen an zu erlernen. Dass beide Voraussetzungen bei einigen Menschen nicht anzufinden sind, sieht man u.a. an der konstant gleich groß bleibenden Anzahl von Analphabeten in Deutschland. Man kann sich seinem "Schicksal" ergeben und das Beste daraus machen oder man kann durch Lernbereitschaft Türen zu neuen Wissensräumen öffnen und sich dadurch für seinen Fleiß selbst belohnen.
Ein guter, alter Freund von mir entgegnete mir schon vor vielen Jahren auf meine Frage, warum er als sehr talentierter Hobby-Saxophonist nicht lesen könne, mit genau dieser Aussage, dass er wohl zu alt dafür wäre. Heute, d.h. viele Jahre später, meint er, dass er damals damit hätte beginnen sollen und dass er jetzt ja zu alt dafür sei. -
Ob man das Lesen tatsächlich braucht, kann jeder eigentlich nur dann beurteilen, wenn er es denn tatsächlich könnte und dann den Vergleich "vorher - hinterher" ziehen würde. Oder: Wenn sich der Horizont auf dem Niveau eines Tellerrands befindet, scheint die Existenz einer Gabel auch sehr fragwürdig.
Um das Defizit des Nicht-Lesen-Könnens auszugleichen, hat sich generell eine gebetsmühlenartige Begründung breit gemacht, die da lautet: meistens haben die "Notisten" kein Feeling. Häufig geht man noch weiter und sagt: die "Profis" haben kein Feeling.
Das Positive an dieser Aussage ist: sie ist derart schwammig, pauschal und vorurteilsbeladen, dass sie nicht ernst genommen werden muss, dass sie aber auch keiner entkräften kann, denn wer kann schon "Feeling" genau definieren? Dieses Argument/Vorurteil wird danach von seinem Autor wie eine Nationalflagge mit trotzigem Stolz vor sich hergetragen, ja fast auf eine dogmatische Ebene gehievt, so dass keiner auf die absurde Frage kommen könnte, warum er nicht ganz einfach ein wenig Zeit in´s Lernen investiert hätte?
Diese trotzige Haltung geht teilweise so weit, dass in einem anderen Musikforum tatsächlich behauptet wurde, Üben würde wenig bringen, da man dadurch noch lange kein Feeling bekäme und das sei letztlich das Allerwichtigste. Und spätestens damit wird es grotesk!
Ohne das Schreiben und Lesen von Noten wäre unsere heutige Musik auf einem frühmittelalterlichen Stand, das ist ein Faktum. Ohne unsere Buchstaben-Schrift kann man sich unser Leben ja auch nicht vorstellen und beides ist durchaus vergleichbar.
Die allermeisten Entwicklungen in der Musiktheorie, von der u.a. auch unsere U-Gitarristen profitieren, sind erst durch die Notenschrift möglich gewesen. Und wenn Notenschrift mit Nicht-Feeling gleichzusetzen wäre, müßten wir heute also ein durch lauter Technokraten verdorbenes Musiksystem vor uns haben.
Um ein komplexeres Stück zu komponieren, geht kein Weg an der Notation vorbei.
Um ein Stück exakt reproduzierbar zu machen, geht ebenfalls kein Weg an der Notenschrift vorbei. Man stelle sich vor, jedermann würde lediglich mit Audiofiles arbeiten, aus denen man erst einmal seinen Part heraushören und dann auswendig lernen müßte. Lächerlich! Für größere Ensembles wie Orchester, Kammermusik-Besetzungen, Big Bands, aber auch schon für etwas größere Pop-Besetzungen mit Bläsern etc. kann es nur den Weg über, bzw. mit Noten geben. Die örtliche Blues Band oder Tanzmugger brauchen es natürlich nicht können, sofern sie denn ein Leben lang in ihren Gefilden zu verweilen gedenken.
Meistens kommen die altbekannten Einwände gegen das Noten-Lesen von Gitarristen und Sängern im U-Bereich. Von Bläsern und Streichern nie, von Pianisten/Keyboardern und Schlagzeugern nur selten. Das liegt daran, dass es unter Hobby-Gitarristen und -Sängern viel mehr Autodidakten gibt als unter den anderen Instrumentalisten. Von denen hat mittlerweile selbst die Hobby-Fraktion den Wert des Unterrichts erkannt, der in der Regel eben mit Noten praktiziert wird. Und dass qualifizierter Unterricht eine segensreiche Angelegenheit ist, muss ich in diesem Kontext sicherlich nicht explizit betonen. Es gibt außerdem im U-Bereich mittlerweile unzählige Workshop-Notenhefte, in denen typische Spielweisen von bekannten Musikern oder Musikstilen analysiert werden. Für einen Amateur im U-Genre herrscht daher heute ein Schlaraffenland, wenn man es mit den Zuständen vor 20 oder 30 Jahren vergleicht, als jeder Gitarrist und Keyboarder notgedrungen mit "House of the rising sun" anfangen musste und sich danach durch´s Heraushören langsam weiter nach oben arbeiten musste. Heute kann man exakte Transkriptionen von Soli und Begleitfiguren der besten Musiker auf Noten verfolgen, sie üben und dadurch als Bereicherung seinem eigenen Stil hinzufügen, bzw. dadurch lernen und sich weiterbilden.
Als generelle Folge dessen ist der allgemeine Technik-Stand der Musiker aller Lager (Profis und Amateure, E und U) in den letzten Jahrzehnten immens gestiegen. Unsere Orchester sind viel besser als vor 40 oder 50 Jahren, aber auch die U-Musiker haben ungeheure Sprünge nach vorne gemacht. Gitarristen wie Clapton würden heute überhaupt nicht mehr auffallen und Bands wie die Stones würden heute als Rumpelbands verschrien sein.
Notenlesen ist ein Arbetswerkzeug und eine notwendige Fixierung der gemeinsamen Sprache, nicht mehr und nicht weniger. Notation ist das, was für einen Physiker die Mathematik darstellt oder für einen Theologen die Bibel. Dabei ist Notation an sich nicht sehr genau. Häufig kommt sie sogar an ihre Grenzen, so dass es am Spieler liegt, die dahinter steckenden Intentionen des Komponisten richtig zu deuten - sofern er denn ein Feeling dafür hat...
Was mich zum Totschlagargument des mangelnden Feelings führt. Ich denke: "entweder man hat´s oder man hat´s nicht"...
Das ist zwar etwas Monty Python-artig, aber wenigstens genauso platt und absurd wie das besagte Vorurteil.
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