Das Digital-Zeitalter beschert uns eine riesige Menge an verfügbaren Sounds mit unendlichen Bearbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Es stellt heute überhaupt kein Problem mehr dar, die Soundmöglichkeiten einer riesigen "Keyboard-Burg" aus den 70-ern in ein einziges Keyboard zu packen. Und trotzdem, bzw. gerade deshalb gibt es Probleme, die in den alten Zeiten nicht existierten. Damit meine ich die Durchsetzungsfähigkeit der Sounds auf der Bühne.
Im Studio oder im Musikzimmer kann man mit den Sounds der aktuellen Geräte generell gut arbeiten. Das eine Gerät oder Plugin ist zwar besser oder schlechter als das andere, aber in puncto Durchsetzungsfähigkeit bekommt man kaum oder überhaupt keine Probleme.
Auf der Bühne herrscht dagegen ein völlig anderes Bild.
Typisches Beispiel: Als ich vor einigen Jahren nach einem Ersatz für mein größes Kurzweil aus den 90-ern suchte - es kam mir vor allem auf einen guten Klaviersound an - kam es mehr als einmal zu folgender Ereigniskette:
Im Test einer Zeitschrift --> sehr gut
Im Musikgeschäft --> sehr schön
Zu Hause --> genau so gut
Auf der Bühne --> ist das Gerät etwa schon kaputt?
Es traten eigentlich immer die gleichen Probleme auf und diese fokussierten sich auf den wichtigsten Frequenbereich, nämlich die Mitten. Sie schienen auf einmal nicht mehr existent zu sein, bzw. sie schienen wesentlich leiser zu sein. Ein Anheben der Lautstärke löste das Problem nicht, denn danach wurde es in puncto Lautstärkebalance zwar etwas besser, aber der Sound an sich wirkte immer noch verfremdet und deutlich schlechter als noch beim Spielen zu Hause.
Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Die Geräte waren natürlich nicht kaputt, ihre Sounds schienen sich aber vor allem in den Mitten nicht gegen die Konkurrenz der Mitmusiker durchsetzen zu können. Im Fall des Klaviersounds bedeutete dieses das Fehlen von sehr wichtigen Klangbestandteilen wie z.B. des allerersten, perkussiven Hammeranschlagssounds, der ja ein sehr "mittiger" Sound ist. Und genau dieser ist ungemein wichtig für den Gesamtsound - wie übrigens bei jedem Sound vor allem die sogenannte Attack-Phase der wichtigste Teil seiner Hüllkurve darstellt.
Selbiges passierte mir nicht nur mit dem Klaviersound. Auch die beliebten Workstations der üblichen Verdächtigen machten keine bessere Figur. So hatte ich z.B. auf einem derartigen Teil ein Layer editiert, der wie eine Art Fantasy-Sound mit silbrigen Höhen klang - zu Hause. Auf der Bühne war er fast nicht zu hören und als ich die Lautstärke drastisch anhob, wurde aus den silbrigen Höhen ein kreischender Brutalosound. Die Ursache ist klar: die Mitten wurden durch die anderen Instrumente "geschluckt" und den Höhen fehlten auf einmal diese Fundament-Frequenzen, so dass sie quasi wie ein aus dem Gesamtsound herausgeschnitter, neuer Sound reagierten.
Man könnte nun sagen, dass das ja kein Wunder sei. Bei den meisten Motivphantomtritons wären die Sounds ja "tot-komprimiert", die DA-Wandler wären billige Massenware und viele Sounds wären durch übermäßigen Effektanteil derartig "gehübscht", dass der eigentliche Kernsound nur noch einen geringen Anteil am Gesamtsound hätte.
An jedem dieser Argumente ist sicherlich viel Wahres dran, aber ist die Sache wirklich so einfach?
Gespräche mit Produktberatern, Diskussionen mit Technikern, darunter einen in Deutschland sehr bekannten Wandler-Spezialisten, usw. - alles brachte nichts, denn so gut wie keinem war dieses Problem bekannt! Also wird es offensichtlich fast nie thematisiert, obwohl viele Musiker den Effekt kennen. Selbst Gitarristen können ein Lied davon singen, wenn sie denn eines der riesigen Modeling-Pedalboards besitzen.
In den 70-ern hätte man von diesem Problem sicherlich nur träumen können. Man ging mit Hammond, Minimoog, Rhodes und einer String-Machine auf die Bühne und bekam damit im Gesamtmix manchmal fast zu viel des Guten und musste reduzieren.
Also: analog muss es sein?
Dagegen: einer der durchsetzungsfähigsten Synthies, die ich kenne, ist der alte PPG Wave und sein Nachfahre, der Microwave (auch der mit den Digitalfiltern). Viel digitaler geht es nicht mehr.
Auch mein neues Digitalpiano bereitet mir keine Probleme mehr, sondern eher viel Freude (es stammt übrigens nicht von den üblichen Verdächtigen - schon gar nicht von der Firma Technics...).
Noch einmal zur Klarstellung: Durchsetzungsfähigkeit soll in diesem Fall natürlich nicht heißen, dass man damit den Rest der Band in die Garderobe drückt, sondern dass sie dafür sorgt, dass auch die kleinen, aber entscheidenden Sounddetails mühelos ihren Weg an die Ohren der Musiker und Zuhörer finden.
Was möchte der Verfasser uns denn nun sagen?
Vor allem ein Punkt: bei dem Kauf eines neuen Gerätes reicht es nicht, Testberichte zu lesen und Demo-Videos zu schauen, und reicht es ebenfalls nicht, das Teil in einem Musikgeschäft anzutesten. Der Probenraum oder die Bühne sollten die Orte der Entscheidung sein - falls man live-orientiert ist.
Daneben möchte ich dazu raten, bei All-In-One-Lösungen, d.h. bei Workstations prinzipiell sehr misstrauisch zu sein. Bei den sogenannten Allerskönnern wird fast nie alles erreicht, sondern meistens nur etwas. Und genau das, also die tatsächlichen Stärken, gilt es herauszufinden und dann zu beurteilen, ob diese dem Anforderungsprofil entsprechen. Dabei sollte man sich immer vor Augen führen, was man live denn tatsächlich braucht.
Gitarren- und Drumsounds etc.? Wohl eher nicht.
Sampling Option? Könnte sehr nützlich sein.
Arpeggiator und Sequencer? Kommt auf die Band und Musik an.
Begleitautomat? Wer es denn braucht ...
Schon das Herausfiltern aller unnützen Features bringt einen neben der Geldersparnis ein gutes Stück weiter, was mich zu meinem Fazit bringt, dass die Spezialisten immer noch die Nase vorne haben.
Keiner sollte erwarten, dass eine Workstation eine auch nur annähernd so volle, analoge "Wand" erzeugen kann wie Moog, Oberheim & Co. Gleiches gilt für die Digitalpianos im Vergleich zu ihren spezialisierten Pendents, aber auch für die Sampling Optionen im Vergleich zu den alten Sampler-Schlachtschiffen.
Das alles gilt in diesem Kontext natürlich für den Live-Betrieb. Im Studio sieht es dagegen etwas anders aus.
Noch einmal zurück zum eigentlichen Thema. Da die "Durchsetzungsfähigkeit" fast ein psychoakustisches Kriterium darstellt und vor allem nur durch persönliche Erfahrungen bewertet werden kann, wäre es schön, wenn hier einige User ihre Erfahrungen mit bestimmten Geräten posten würden.
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