Wahre und typische Geschichte:
Anruf einer Sängerin. Sie benötigt von einem Oratorium mit einer 220 Seiten umfassenden Partitur einen Klavierauszug mit Gesangsstimmen.
Ego: Wieviel Zeit habe ich?
Antwort: 1 1/2 Monate!
Ego: Das ist kaum zu schaffen, aber wenn, dann höchstens handschriftlich.
Antwort: Nein, das auf keinen Fall. Es muss schon mit Notensatzprogramm sein.
Ego: Das hieße, pro Tag - inclus. Wochenenden - 5 Partiturseiten zu arrangieren und in ein Notensatzprogramm zu schreiben.
Antwort: Ja und?
Ego: Das hieße genau genommen, zwei völlig unterschiedliche Arbeitsaufgaben auf einmal zu übernehmen, nämlich die des Arrangierens und des Notensetzens.
Antwort: Gehört das nicht zusammen?
Ego: Das hieße, 1 1/2 Monate mindestens 12 Stunden Arbeit pro Tag. Das wäre kaum zu schaffen und wenn, dann wäre es nicht gerade billig.
Antwort: Hmm - aber wir können nicht so viel zahlen, höchstens 500,- €.
(Es handelte sich wohlgemerkt um eine prof. Opernsängerin.)
Das ist eine typische Geschichte aus dem Musiker-Alltag. Alles muss professionell und trotzdem günstig sein, am besten kostenlos. Mühe, Aufwand sowie die generellen Faktoren Können-Aneignen und Erfahrung-Sammeln spielen so gut wie keine Rolle mehr. Zusätzlich kommt noch der Zeit-Faktor hinzu. Es muss alles möglichst sofort oder in nächster Zukunft verfügbar sein.
Unter den Rubriken "Eqiupment" und "Aufnahmetechnik" türmen sich Posts wie:
Also ich hab da mal eine Frage. Ich habe mir ein TBone/Fame/Sonstwas - Mikro gekauft, aber irgendwie klingt es nicht so gut, wie ich mir das vorgestellt habe. Könnte eventuell an der Soundkarte liegen, ich benutze nämlich die interne, vom Werk mitgelieferte Soundkarte meines Aldi-PCs. Hat da jemand mal einen Tip? Darf aber nicht mehr als 25,- € kosten. -
Am liebsten würde ich antworten: Wie wär´s denn mit Sparen, um sich dann etwas Vernünftiges zu kaufen und in der Zwischenzeit mit einem Provisorium Erfahrungen zu sammeln?
Oder noch schöneres Beispiel: Ich brauche eine eingängige Melodie zu folgendem Lied **xx.
Also - wenn ich diese eingängige, passende Melodie besäße, sollte er doch wohl nicht erwarten, dass ich ihm das Resultat meiner Kreativität schenke, aber offenkundig erwartet er genau das. Nur frage ich mich dabei, welches künstlerische Selbstverständnis der Fragesteller besitzt? Offenkundig betrachtet er einen Song nicht mehr als einen ureigenen Schöpfungsprozess, als ein Produkt seines eigenen Geistes.
Sogar das hiesige Forum selbst stellt eine Art Discounter in Sachen Wissens-Abschöpfung und Ratgebung zum Nulltarif dar. Hier gibt es unzählige User, die mit genau einem einzigen Beitrag, nämlich so einem wie dem o.a. TBone-Beitrag, nichts weiter als schnellen, kompetenten und kostenlosen Rat abfragen möchten. Danach wird nie wieder etwas von ihnen gepostet werden, noch nicht einmal ein simples "Danke".
In den Musikgeschäften wurde in den letzten Jahren heftig rationalisiert und Personal eingespart, weil sie es sich nicht mehr leisten können, völlig Ahnungslosen nichts weiter als eine Auskunft zu geben, ohne dass von diesen der Wert solcher Hilfe in Form eines Kaufes anerkannt wird, der wird nämlich bei Thomann oder im Netzt getätigt.
Bei vielen Software-Herstellern sind spezielle Hotlines mittlerweile kostenpflichtig. Die Schwemme der Anrufer, die zu faul waren, die Bedienungsanleitung zu lesen, hatte sie in puncto Zeiteinsatz der Mitarbeiter erheblich überfordert.
Es gibt gerade in der heutigen Zeit derart große Informationsmöglichkeiten durch das Netz, d.h. Homepages der Hersteller, Testberichte, Foren, in denen man erst einmal lesen sollte, um danach bei Bedarf zu posten, div. FAQ-Seiten, so dass ich oben zitierte Posts schon fast als eine Manifestierung besagter Faulheit bezeichnen möchte.
Die Notereihe "It´s easy to play *" sagt bereits alles über den Zeitgeist aus. Nein, möchte ich dagegenhalten, es ist nicht easy to play *. Es ist genau genommen very difficult. Wenn man aber - wie in besagter Notenreihe - bekannte Stücke bis auf ein Skelett ausdünnt und vereinfacht, ja dann ist es natürlich easy. Aber spielt man dann überhaupt noch das angegebene Stück? Nein, man spielt ein sehr verzerrtes Spiegelbild davon und jagt einer Illusion nach. Aber immerhin geht es schnell und bedeutet keinen allzu großen Aufwand. Ganz im Zeitgeist also.
Auch die Frage nach dem Schutz des geistigen Eigentums berührt diesen Gesamtkomplex. Wie häufig begegne ich ungläubigem Kopfschütteln, wenn ich nicht bereit bin, Demos ohne genauere Kenntnis des Adressaten zu verschicken. Er könnte ja mit richtigem Namen Bohlen heißen.
In der Weißzone kennen wir diverse Loops von James Brown-Grooves etc. und deren kommerzielle Verwertung. In der Grauzone möchte ich tausende weiterer Diebstähle solcher Art vermuten, die nur durch die Unbekanntheit des Originals oder die Machtlosigkeit der originalen Interpreten nicht an das Licht der Öffentlichkeit gelangen. Euphemistisch verquast kam vor ein paar Jahren das Wort Dekonstruktivismus auf und diente seitdem als Alibibegriff dafür, dass es eben auch ein künstlerischer Schaffensprozess sei, aus etwas Bestehendem etwas Neues zu machen. Parallel dazu avancierte das Loop-Klauen und Remixen zu einer ernst genommenen Sparte unser Feuilletons.
Jedes Musikstück sollte also frei verfügbar sein, jede Note und jeder Text ebenso. Als wenn das Erstellen dieser Musik kein Können, keine Lebenszeit und kein Geld gekostet hätte. Software? Am besten Freeware oder die Leihgabe der Vollversion von einem guten Bekannten für einen Tag.
Letztlich läuft es im Bereich Musik einmal wieder auf das eigentlich uralte Vorurteil hinaus: Musik ist brotlose Kunst oder zumindest ein Bereich, für den man keine besondere Ausbildung und Talent braucht. Eigentlich könnte das fast jeder, wenn er denn nur wollte. Daher sind musikalische Produkte und Erkenntnisse auch nichts, was man nur in Form von Vergütung goutieren kann. Insofern hat sich im Vergleich zu alten Zeiten leider nichts geändert, im Gegenteil. Ganz hinterlistige Netz-Aktivisten erklären die geistigen Erzeugnisse aller Künstler zu einer Art Menschheitserbe, das für jeden frei verfügbar sein sollte. Die Musikverlage, die GEMA, die Managements und all die anderen Interessenvertreter und sog. Verwertungsinstitutionen führen dagegen ein aussichtsloses Rückzugsgefecht. Sehr bald wird alles in bester Qualität und so schnell wie möglich verfügbar sein. Nur wird es dann kaum noch Künstler geben, die es sich leisten können, Musik zu kreieren.
Aber genug der digitalen Zeitgeist-Schelte - zurück zum analogen Üben.
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