Schaut man sich die Bedeutung der Keyboards in der Pop/Rock-Musik an, kann man so etwas wie eine große Sinuskurve erkennen. In den 50- und 60-er Jahren fanden sie höchst selten statt, die Gitarren dominierten und dementsprechend langweilig war die Musik. Ende der 60-er kam schließlich die Neugierde auf neue und interessantere Ausdrucksformen auf. Man entdeckte entlegene Harmonien, "krumme" Taktarten, neue Instrumente wie eben die Keyboards, "tiefsinnige" Texte und überlange Soli, was nur zum Teil mit den scheinbar dazugehörigen Dr*gen zusammenhing. Mainstream war damals eher etwas für die Mädels, die mit den langen Instrumentalpassagen und den manchmal aggressiven Sounds wenig anfangen konnten. Sie hörten lieber die langweiligen Songs von Cat Stevens und Simon & Garfunkel.
Parallel zu dieser Entdeckungsphase wurden tatsächlich neue Instrumente entwickelt. Die Hammond-Orgel und das Rhodes-Piano gab es zwar schon vorher, aber eigentlich waren sie eher nicht für die Musiker on the road entworfen. Sie sollten in Wohnzimmern und Studios stehen. Dementsprechend schwer und groß waren sie, was aber die damaligen Musiker nicht davon abhielt, sie mit vereinten Kräften zu schleppen, denn mit ihnen bekam die Musik neue Farben, Impulse und Möglichkeiten. Gleichzeitig erblickten die ersten tragbaren Synthesizer das Licht der Welt. Die Werbung und Legendenerzähler sagten, dass mit ihnen tatsächlich jeder überhaupt mögliche Sound kreiert werden könnte, was viele dazu animierte, Naturinstrumente imitieren zu wollen. Diese ersten Synthies waren aber noch vollkommen analog und das Spektrum der Möglichkeiten dadurch begrenzt. Imitationen von Naturinstrumenten gehörte sicher nicht zu ihren Hauptstärken. Das geschah erst in den 80-ern mit den digitalen Samplern. Allerdings kam gerade in der oben beschriebenen Zeit Ende der 60-er ein analoger Sampler auf den Markt, nämlich das Mellotron, das mit bespielten Endlos-Bandschleifen arbeitete. Staunend hörte man "Ah"-Chöre, Streichersounds und Flöten von bisher nicht gekannter Authentizität.
Aber zurück zu den ersten, analogen Synthies, die damals entweder Minimoog oder Arp Odyssey heißen mussten, wenn man cool sein wollte. Die Geräte waren monophon, was den Einsatz einschränkte. Man konnte damit aber immerhin Soli, Gegenstimmen, Riffs, Basslinien und Sound-Effekte spielen und dadurch der Band einen neuartigen Stempel aufdrücken. Die Soundmöglichkeiten waren im Vergleich zu Hammond und Rhodes jedenfalls erstaunlich. Noch erstaunlicher war die Tatsache, dasss man erst herausfinden musste, wie die Sounds im Bandkontext funktionierten. Sie waren wie das sprichwörtliche weiße Blatt Papier. Kein Musiker hatte es zuvor beschrieben und so fing man erst damit an, passende Spieltechniken und eine Art Spielästhetik dafür zu kreieren.
Zwei Beispiele: Beatles - "Here comes the Sun" bietet im Mittelteil einen der ersten Pop-Einsätze eines Moog-Synthesizers. Das geriet allerdings noch recht zahm. Ganz anders dagegen ELP - "Lucky Man". Das Schlusssolo ist das erste "richtige" Solo eines Moogs auf einer Pop-Platte. Dieser Sound spielt keine Nebenrolle mehr wie bei den Beatles. Er beherrscht das Soundgeschehen wie ein Gitarrensolo und ist dabei aggressiv und vor allem für damalige Ohren völlig neuartig, vor allem der Glissando-Effekt. Damit besaßen die Keyboarder endlich ein Instrument, mit dem man den notorischen Solo-Abonnenten, sprich den Gitarristen, etwas entgegensetzen konnte. Mit Hammond oder Rhodes war das stilistisch nicht so gut möglich.
Wenn man sich das Setup von Tony Banks bei Genesis im Jahr 1973 anschaut, dann stand da eine Hammond und ein Mellotron für hauptsächlich akkordische Arbeit, ein Arp Prosoloist für Soloaufgaben und ein RMI E-Piano zur Imitation von Pianosounds. Damit ließ sich schon eine Menge anfangen, was man z.B. auf dem Album "Lamb lies down on Broadway" hören kann.
Noch extensiver betrieb es Keith Emerson, der mit ELP zwei Hammonds, ein riesiges Moog Modularsystem (eigentlich nur für´s Studio gedacht), einen Minimoog und einen Flügel auf die Bühne nahm. Das bot für damalige Verhältnisse so viele neue Möglichkeiten für Sounds und ambitionierte Musik, dass ein Gitarrist sowieso nur gestört hätte. Folgerichtig ließ man ihn einfach weg.
Was für heutige Ohren und für junge Nachwuchsmusiker schwer nachvollziehbar ist: es war - wie gesagt - eine Zeit, in der die Hörgewohnheiten sehr eingegrenzt waren. Ob der 50-er Rock´n Roll oder der 60-er Beat, von Soundvielfalt kann man nicht reden. Aber innerhalb von nur ein paar Jahren explodierten die Klangmöglichkeiten durch oben erwähnte Entwicklungen und - zugegebenermaßen - auch durch die Tatsäche, dass sich die Gitarristen spieltechnisch enorm verbesserten und neue Sounds anboten. Letzten Satz möchte ich aber nur als zwanghafte Attitüde meinerseits verstanden wissen, eine objektive Betrachtungsweise einfließen zu lassen.
Das alles geschah im sogenannten Prog-Rock (auch Art-Rock), der seine Experimentierlust in den 70-ern immer weiter auf die Spitze trieb. Daneben etablierte sich der Jazz-Rock, der dem in nichts nachstand. Chic Corea spielte am Anfang seiner Erfolgskarriere lediglich ein Rhodes. Jetzt saß er auf einmal wie seine Rock-Kollegen inmitten einer Keyboardburg, Herbie Hancock ebenso. Joe Zawinul kreierte mit Weather Report wundervolle Atmosphären und ließ die Imagination von Big Band-Sounds entstehen und spielte doch "nur" analoge Synthies, neben seinem obligaten Rhodes. Selbstredend durfte bei so viel Kreativität kein Gitarrist das Resultat ruinieren. In der Rockabteilung gab es Bands wie Gentle Giant, bei denen permanente Taktartwechsel so selbstverständlich waren wie bei Strawinsky und von denen jeder Musiker zwei völlig unterschiedliche Instrumente sehr gut spielen konnte und musste.
Vielen dieser Bands war ein Punkt gemein: es herrschte eine Gleichberechtigung zwischen Keyboards und Gitarristen - grob gesagt. Dementsprechend abwechslungsreich konnten Sounds und Arrangements sein. Dementsprechend hohe Anforderungen an das Können wurden aber auch vorausgesetzt.
Mädels konnten mit dieser Musik - wie gesagt - so gut wie nichts anfangen. Sie blieben in ihrer breiten Masse beim Pop-Mainstream. Rick Wakeman berichtete von den frühen Yes-Konzerten, dass etwa 80% des Publikums aus Jungs bestand und dass schon von daher dieses Gerede mit den vielen Groupies völlig übertrieben sei.
(Anmerkung des Autors: die gingen lieber zu dieser s*xistischen Band "Led Zeppelin" - mit einer phallisch benutzten Gitarre und einem halbnackten Sänger im Vordergrund...)
Dass Progrock eher elitär und keine populäre Subkultur mehr war, wurde deutlich, als der Punk mit dem absoluten Gegenentwurf Mitte der 70-er seinen Siegeszug antrat. Das Stümperhafte auf den Instrumenten und in den sogenannten Kompositionen wurde auf einmal zur Erfolgsgarantie - verbunden mit einer gehörigen und meist vorgetäuschten Portion Hass gegen das Establishment und generell die ganze Welt. Dass innerhalb dieser Barbaren die Gitarristen wieder die Hauptrolle spielten und die Keyboarder fast nicht mehr vorhanden waren, bedarf eigentlich keiner besonderen Erwähnung, es war nur logisch. Ein bekannter Musiker meinte dazu: Pop oder Rock hat auch etwas damit zu tun, dass man es nach einer überschaubaren Zeit des Übens nachspielen kann. Das trägt zum Identifizierungspotential bei und macht es im wahrsten Sinn des Wortes "pop-ulär". Progrock vermittelte den Zuhörern dagegen das Staunen über so viel Virtuosität und das Gefühl, dass man für dieses Genre Musik studieren musste. Insofern konnte das nicht auf Dauer populär sein.
Parallel zum Punk ging es aber mit der Entwicklung der Keyboards weiter. Es folgten die ersten polyphonen und dazu noch programmierbaren, analogen Synthesizer. Endlich konnten mit ihnen Akkorde und Flächen gespielt werden und endlich konnte man seine Lieblingssounds mit einem Knopfdruck abrufen. Selbst ein passables Piano kam mit dem Yamaha CP-70 auf dem Markt. Da es im Prinzip ein echtes, aber kastriertes Klavier war, handelte man sich damit gleichzeitig die altbekannten Schwierigkeiten ein: exorbitantes Gewicht und Stimmprobleme. Dann kamen endlich die digitalen Sampler in Form von unbezahlbaren Monstern auf den Markt: Fairlight und Synclavier mit sagenhafter 8bit-Auflösung. Sie wurden innerhalb von wenigen Jahren durch bezahlbare 12- und danach 16bit-Kollegen der üblichen, verdächtigen Firmen abgelöst. Die ersten digitalen Synthies drängten nach vorne, allen voran der PPG Wave mit vielen unterschiedlichen Wellenformen als Soundbasis. Mit Yamahas DX7 folgte der erste erfolgreiche, da bezahlbare Synthie, der über keine analoge Klangerzeugung verfügte. Mit seinen perkussiven und metallischen Klangmöglichkeiten stellte er die ideale Ergänzung zu den analogen Synthies dar. Danach kam mit dem Roland D-50 die allererste Einbindung von Sample-Attackphasen und Digitaleffekten in einen ansonsten normalen, analogen Synthesizer. Die ersten akzeptablen Piano-Module erschienen ebenfalls auf dem Markt und ersparten den Musikern und Roadies eine Menge Gewicht. Kurzum - es war derartig viel los auf dem Keyboard-Sektor, dass der Pop der 80-er davon geprägt werden musste.
Die ehemaligen Progrock-Bands lösten sich derweil auf, führten Rückzugsgefechte oder wechselten zum Pop, z.B. Genesis. Was man aber im damaligen Pop hörte, war gemessen an den Pioniertagen des Progrocks und den nunmehr zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten nur noch ein dünnes, unambitioniertes Süppchen. Man könnte auch behaupten, dass es wohl nicht mehr um Musik ging. Im Vordergrund standen Verkörperung eines Lifestyles und das Kohle-Machen, was einander wohl bedingt.
Während also die Keyboards die Popmusik der 80-er dominierten, spielten die Gitarren im Rock wieder die mit Abstand führende Rolle. Punk und minimalistische Bands wie The Police oder ZZ Top seien dabei erwähnt.
In den 90-ern verlangsamte sich die Entwicklungsgeschwindigkeit der Keyboards deutlich. Die Qualität wurde sicherlich verbessert, aber das Revolutionäre fand nun in der Software-Entwicklung statt. Mit Midi hatten die größten Hersteller eine funktionierende Schnittstelle für alle Keyboards eingeführt. Die Live-Keyboarder konnten ihre Burgen gegen ein oder zwei Masterkeyboards mit angeschlossenen 19"-Modulen tauschen. Aber im Studio begann sich alles dank Midi auf das Sequencing zu konzentrieren. Man konnte mit ein paar Soundmodulen und einer für heutige Verhältnisse sehr rudimentären Software ohne Probleme Bands imitieren. Selbst Frank Zappa wurde dadurch animiert, alleine im Studio mit Hilfe eines voll ausgebauten Synclaviers ganze Orchester-Partituren einzuspielen. Man fühlte sich wie erlöst. Endlich konnte man ganz alleine alles genauso zum Klingen bringen, wie man es sich vorgestellt hatte - ohne die ständig nervenden Bandkollegen. Es war ein wundervolles und doch trügerisches Gefühl. Hört man sich nämlich heute die Ergebnisse der damaligen Arbeit an, die häufig wochenlanges Einspielen, Programmieren und Editieren bedeutete, stellt man häufig ernüchtert fest, wie steril und langweilig es klingt.
Leider ritten dabei die damaligen Keyboarder auf der Speerspitze der technischen Entwicklung und so war es nur natürlich, dass sie immer mehr zu Programmierern und dann zu Produzenten mutierten. Wo aber blieb das Üben? Wo blieb das Live-Spielen?
Meines Erachtens bedeuten die 90-er den Rückzug sehr vieler ambitionierter Keyboarder von der Bühne in das Studio. Die Folgen sind heute ziemlich deutlich zu erkennen.
Was kam danach? Das Audio-Sequecing und das Transferieren der Soundquellen nebst Effekten und Mischmöglichkeiten in den PC. Man verfügt damit über Milliarden Sounds und Editiermöglichkeiten, zittert aber bei jedem Betriebssystem-Wechsel um die Kompatibilität. Die Entwicklungsschraube dreht sich immer schneller, aber bei etwas Abstand stellt man fest, dass man als "spielender" Keyboarder von allem lediglich mehr hat, vom Sound-Volumen und -Durchsetzungsfähigkeit aber meistens eher weniger. Was im Studio sinnvoll sein mag, entfernt sich auf der Bühne immer mehr von den Bedürfnissen eines ambitionierten Keyboarders, der noch alles live spielen möchte. Dass viele dabei immer weniger spielen und immer mehr Audio-Sequencen abspielen lassen, kann man schon an der heutigen Dominanz der sogenannten Workstations erkennen. Aber lassen wir das Gejammere, um in ein noch größeres einzustimmen:
Schaut man sich die "Durchschnittsband" von heute an, so besteht sie aus 1x Git., 1x Bass, 1x Drums und einer jungen Sängerin, die vorzugsweise ihre Tagebucheinträge aus ihrer Pubertät in Songs gepackt hat. Keyboards werden höchsten "eingeflogen" oder als Gastmusiker off stage versteckt. Wenn man ein Solo hört, wer spielt es? Wenn einer ein Intro alleine macht, wer spielt es? Und wenn es dann ganz kuschelig werden soll, werden die akustischen Gitarren ausgepackt. Fazit: langweiliger geht´s nicht.
Diese Monokultur trifft aber in ihrer Begrenztheit genau auf den Manipulationswillen der Plattenfirmen. Man kann eine Band wieder auf eine einzelne Person, sprich Sängerin, reduzieren. Falls sie noch gut aussehen sollte, umso besser. TV und Radio müssen durch lange Soli nicht mehr um die 3 Minuten-Grenze zittern und die Talkshows müssen sich ihr seichtes Niveau nicht durch das ambitionierte Auftreten von Instrumentalisten ruinieren lassen. Eine eitle und selbstbewusste Sängerin passt nun einmal besser in solche Formate als mehrere Musiker, die sich noch nicht mal einig sind, wer wann und zu was etwas sagen soll.
All das hat sich erfolgreich auf den Massengeschmack ausgewirkt und es zu dieser langweiligen Standard-Besetzung kommen lassen. Selbst den Gitarristen hat man - und das schreibe ich nicht völlig ohne Schadenfreude - ihr vermeintlich ureigenes Terrain rigoros kastriert: sie spielen kaum noch Soli. Von "U3" bis "Wir sind Clowns", Gitarrensoli fast Fehlanzeige.
Stattdessen gewinnen die Texte eine immer größere Bedeutung. Sie werden z.B. bei einigen Bands in den Feuilletons mit Musik gleich gestellt, d.h. man schreibt von Musik und meint eigentlich ausschließlich die Texte - als wenn Musik an sich nichts aussagen könnte. Bei dieser Fokussierung kann eine anspruchsvollere "Begleitung" natürlich nur stören.
Letzter Punkt: wenn man als Keyboarder heute auf der Bühne steht und leider von einem gemieteten PA-Unternehmen gemischt wird, braucht man eigentlich gar nicht mehr zu spielen. Der Standard-Mix schiebt die Keyboards in der Regel noch weit hinter die Overheads der Drums, so dass man sie mehr erahnen kann, als sie tatsächlich nuanciert zu hören. Und dafür hat man unter Umständen tagelang an den Sounds programmiert und vielleicht auch geübt...
Darum: Keyboarder, emanzipiert Euch - endlich wieder! Ihr seid nicht dazu verpflichtet, die Teppiche zu legen, Sound-Effekte einzuwerfen oder Brass-Sections zu imitieren, bei jedem Solo aber automatisch zum Gitarristen zu schauen und zu warten, bis er endlich ausgesolot hat.
Das mittlerweile unverschämte Selbstverständnis der Gitarristen ist aber nur ein Punkt. Der zweite liegt in dem bereits erwähnten Selbstverständnis der Sängerinnen, die ihre Eitelkeit in der absoluten Fokussierung auf ihre natürlich alles in den Schatten stellenden Bühnenpräsenz ausleben wollen. Eine Gitarre ist dabei noch hinnehmbar und wird außerdem als s*xgeladenes Rocksymbol angesehen und akzeptiert. Emanzipierte Keyboards aber bedingen fast per se ausgeklügeltere Arrangements und Sounds, sprich der instrumentale Anteil der Musik bekommt eine stärkere Gewichtung und das kann natürlich für sie nicht erwünscht sein.
Auch hier wurde das Publikum so lange erzogen, dass es sich fast nur noch auf eine einzelne Person konzentrieren kann. Wer das ist, dürfte klar sein. Dabei können die Sänger/innen noch so schlecht und die Instrumentalisten noch so gut sein, die Applausverteilung am Schluss ist meistens eindeutig.
Wer ist also eigentlich schuld an der ganzen Misere? Richtig: die Gitarristen und die Mädels! Es wird Zeit, das sich daran etwas ändert.
So - und nun gebt mir Kontra ...
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